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Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 19)Andreas Storm (Herausgeber)Pflegereport 2017

Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 19)Pflegereport 2017Gutes Leben mit Demenz: Daten, Erfahrungen und PraxisHerausgeber:Andreas Storm, Vorsitzender des Vorstands der DAK-GesundheitDAK-GesundheitNagelsweg 27-31, D-20097 HamburgAutor:Prof. Dr. habil. Thomas KlieEvangelische Hochschule FreiburgBugginger Str. 38, D-79114 FreiburgUnter Mitarbeit vonChristine Bruker, Birger Dittmann, Wilhelm Haumann, Helmut Hildebrandt,Laura Lange, Timo Schulte, Florian WernickeRedaktion:DAK-GesundheitNagelsweg 27-31, D-20097 HamburgHamburg/FreiburgOktober 2017

Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2017 medhochzwei Verlag GmbH, Heidelbergwww.medhochzwei-verlag.deISBN 978-3-86216-375-5Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Druck: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, PaderbornPrinted in Germany

VVorwortDerzeit leben in Deutschland rund 1,6 Mio. Menschen mit Demenz.Wenn keine Behandlungsmöglichkeit für die bislang unheilbare Erkrankung entwickelt wird, könnten es 2050 doppelt so viele sein.Doch Demenz fordert unsere Gesellschaft nicht nur auf medizinischer Ebene heraus. Wir müssen uns auch der Frage stellen, wiedas Leben mit Demenz würdig und mit Teilhabe gestaltet werdenkann.Dem widmet sich die DAK-Gesundheit in ihrem dritten Pflegereport.Gerade in Bereichen, die über medizinische und pflegerische Versorgung hinausgehen, gibt es Defizite. Welche Rahmenbedingungen ermöglichen Menschen mit Demenz ein Leben, das auf Selbstbestimmung und Teilhabe ausgerichtet ist? Wie können Angehörigebesser in die Betreuung eingebunden werden? Wie müssen sichPflegeeinrichtungen und -dienste aufstellen und verändern, um besser auf die besondere Situation von Betroffenen eingehen zu können?Um Antworten auf diese Fragen zu finden, nutzt die DAK-Gesundheit in ihrem Pflegereport 2017 unterschiedliche empirische Zugänge: eine Bevölkerungsbefragung, die Auswertung ihrer Routinedaten und Interviews mit Angehörigen. Zudem zeigen Beispiele ausder Praxis, welche Möglichkeiten es gibt, mit Demenz umzugehen.Gerade im deutschsprachigen Raum wird schon seit einigen Jahrzehnten intensiv um Wege zu menschenwürdigen Versorgungskonzepten und Lebensformen mit der Erkrankung gerungen. Heutewissen wir eines sicher: Die allein selig machende Antwort durchdie Proklamation einer bestimmten Versorgungsform oder eines bestimmten Versorgungskonzepts gibt es nicht.Viel zu häufig prägt noch die Vorstellung, dass die Familien dieBegleitung von Menschen mit Demenz alleine leisten können, daspflegende Umfeld. Professionelle Angebote, die auf Entlastung, aufAktivierung und Beratung hin ausgerichtet sind, erreichen die betroffenen Haushalte kaum. Dies betrifft auch die von den Pflegekassenvorgehaltenen Beratungsangebote, wie wir selbstkritisch feststellenmüssen.Es gilt, auf den verschiedenen Ebenen die Verteilung der Aufgabenweiterzuentwickeln und sorgende und pflegende Angehörige ausdem „Gefängnis der alleinigen Verantwortung“ herauszubewegen,wie es Professor Thomas Klie formuliert. Das Prinzip der geteiltenVerantwortung in der Pflegekultur zu etablieren und Versorgungskonzepte nach diesem Leitbild aufzubauen, ist eine der Schlussfolgerungen aus dieser Studie. Die Bevölkerung ist offen für das Thema Demenz, wie die Allensbach-Studie in diesem Buch zeigt. Die

VIVorwortMenschen sehen aber auch politischen und fachlichen Unterstützungsbedarf. Als große Kranken- und Pflegeversicherung möchtenwir die Diskussion hierüber weiter forcieren.Andreas StormVorstandsvorsitzender der DAK GesundheitHamburg, Oktober 2017

VIIInhaltsverzeichnisVorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .(Storm)VLeben mit Demenz – Schreckgespenst des Alters? . . . . .(Klie)XTeil 1: Expertise, Akzeptanz und Anteilnahme:Voraussetzungen für einen gelingenderen Alltag mitDemenz – Ergebnisse des DAK Pflegereports 2017 . . . . .(Klie)1Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Teil 2: Die Studien zum DAK Pflegereport 2017 . . . . . . . 171. Leben mit Demenz. Einstellungen und Beobachtungender deutschen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . .(Haumann)1.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.2 Kenntnisse und Haltungen zur Demenz . . . . . . . . .1.3 Wie Menschen mit Demenz betreut und gepflegtwerden sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.4 Erfahrungen bei der Begleitung von Menschenmit Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.5 Bedeutung für das eigene Leben . . . . . . . . . . . .1.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.7 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.8 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.9 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2. Regionale Verteilung der Demenz sowie Inanspruchnahme vor und nach Erstdiagnose . . . . . . . . . . . .(Lange/Schulte/Dittmann/Hildebrandt)2.1 Kernergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2.2 Einleitung/ Datengrundlage . . . . . . . . . . . . . . .2.3 Prävalenz und Inzidenz demenzerkrankter Patientenbei der DAK-Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . .2.4 Regionale Verteilung von Demenzpatienten derDAK-Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2.5 Analyse relativ zum Zeitpunkt der Demenzdiagnose . .2.5.1 Versichertenstruktur . . . . . . . . . . . . . . .2.5.2 Analyse der relativen Leistungsinanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .181820253041434748495050525354636465

VIIIInhaltsverzeichnis2.62.72.82.92.5.3 Vergleichende Analyse der am häufigstendokumentierten Erkrankungen vor und nachder ersten Demenzdiagnose . . . . . . . . . . .2.5.4 Vergleichende Analyse der Medikamenten verordnungen vor und nach der erstenDemenzdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . .2.5.5 Analyse der relativen Kostenentwicklung . . . . .2.5.6 Analyse von Inanspruchnahme-Mustern . . . . .Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .68757782899192943. Qualitative Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96(Bruker/Klie/Wernicke)3.1 Fallvignetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963.1.1 „Es darf nicht auf einem Paar Schultern landen,sondern muss verteilt sein “ . . . . . . . . . . 973.1.2 „Ich wollte das alleine schaffen“ . . . . . . . . . . 993.1.3 „ dann heißt es immer: ‚Wir haben keinPersonal‘“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013.1.4 „Immer wieder ran ans Klavier und üben.Das ist, glaube ich, sein Lebenselixier.“ . . . . . 1043.1.5 „Denn ich bin ja hier richtig, möchte ich sagen,gefangen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083.1.6 „Dann vergaß sie zu essen und zu trinken undwir haben das erste Mal an Demenz gedacht“ . . 1103.1.7 „Also ich hatte den Eindruck, dass mein Papagern gelebt hat – bis zum Schluss“ . . . . . . . 1123.1.8 „Mich hat sie einige Male schon aus derWohnung geworfen “ . . . . . . . . . . . . . 1153.2. Gegen die Angst – Erfahrungen und Bilder gutenLebens mit Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183.2.1 Ars vivendi dementia . . . . . . . . . . . . . . . 1203.2.2 Leben im Gefängnis der Sorge . . . . . . . . . 1223.2.3 Die dunklen Seiten der Demenz . . . . . . . . . 1243.2.4 Hilfreiche Hilfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263.2.5 Geteilte Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . 1273.3 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1284. Gutes Leben mit Demenz: Geteilte Verantwortung inambulanten Pflege-Wohngruppen – Voraussetzungsvolle gute Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130(Klie)4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1304.2 Entwicklungspfade ambulant betreuter Wohngruppen . 1314.3 Hybridität und geteilte Verantwortung . . . . . . . . . 1334.4 Die Praxis der geteilten Verantwortung . . . . . . . . . 1374.5 Freiwillige in Wohngruppen in geteilter Verantwortung . 1384.6 Felder der geteilten Verantwortung . . . . . . . . . . 139

Inhaltsverzeichnis4.7 Qualität und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1414.8 Wohngruppen in geteilter Verantwortung: Paradig matisch für Bedingungen guten Lebens mit Demenz? . 1434.9 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1464.10 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1485. Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149IX

XLeben mit Demenz – Schreckgespenstdes Alters?Thomas KlieDer DAK Pflegereport 2017 widmet sich dem Thema Leben mit Demenz. Er tut dies in einer Weise, die für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der Krankheit nicht selbstverständlich undtypisch ist. Er fragt nach Bedingungen guten Lebens für Menschenmit Demenz – ebenso für An- und Zugehörige.Ist die Frage als solche schon provokant? Kann es überhaupt eingutes Leben mit Demenz geben? Ist doch ein Leben mit Demenz fürviele das Schreckgespenst des hohen Alters schlechthin. Es gilt daher, sich mit diesen Annahmen und Vorurteilen auseinanderzusetzen, und auch, ihnen entgegenzutreten. Vor allem unter ethischenGesichtspunkten: Jeder Mensch hat einen Achtungsanspruch, besitzt Würde und hat ein Recht darauf, sein eigenes Leben zu führen.Es ist Aufgabe der Gesellschaft, ihrer Institutionen sowie ihrer Bürgerinnen und Bürger, Menschen mit Demenz vor Demütigungen zuschützen. Die Zunahme der Zahl von Menschen mit Demenz machtdiese kulturelle Aufgabe zu einer ganz zentralen, wenn es darumgeht, die Prinzipien unseres Sozialstaates ernst zu nehmen.Doch ist „Gutes Leben mit Demenz“ nicht nur unter normativen Gesichtspunkten ein für die breite Öffentlichkeit relevantes Thema. Wirwissen aus der Forschung, dass Menschen mit Demenz Glücksmomente erfahren können und ein Dasein mit Demenz in vielerHinsicht auch ein intensives, gutes sein kann. Demenz kann so zueinem selbstverständlichen Teil dieses Lebens und gleichwohl zueinem Weg aus diesem werden. Für viele Menschen hat die Begleitung von Menschen mit Demenz ihre Vorstellung vom Menschseinund von zwischenmenschlicher Solidarität verändert.Gesellschaftlich geht es darum, die verfügbaren Mittel und Ressourcen für Menschen mit Demenz so einzusetzen, dass sie der Gestaltung eines guten Lebens dienen.Ob die Mittel der Pflegeversicherung auch nach der Reform ausreichen oder nicht, bleibt eine offene Frage, die es politisch zu debattieren gilt. In jedem Fall haben Menschen mit Demenz Anspruchauf eine teilhabeorientierte, ihre individuelle Lebensweise unterstützende und am aktuellen fachlich-wissenschaftlichen Stand der Begleitung, Behandlung und Pflege orientierte Erbringung der ihnenzustehenden Leistungen.Schließlich geht es bei Fragen eines guten Lebens auch und gerade um den Ort, an dem Betroffene leben: Ob ein Leben unter demEindruck der Erkrankung gelingen kann, hängt nicht zuletzt von derörtlichen Sorgekultur, der Demenzfreundlichkeit der Kommunen sowie Vereinbarkeitsfragen von Beruf und Sorgearbeit ab.

Leben mit Demenz – Schreckgespenst des Alters?Darum fokussiert der DAK Pflegereport 2017 das Thema Demenzunter der Fragestellung: Gibt es ein gutes Leben mit Demenz? Wieschon in den vergangenen DAK Pflegereporten, wurde ein methodischer Dreischritt gewählt, um der Frage in einer auch wissenschaftlich interessanten und Erkenntnis fördernden Weise nachzugehen.Das Institut für Demoskopie Allensbach konnte erneut für eine Bevölkerungsumfrage, diesmal zum Thema Demenz, gewonnen werden. Dank sei Frau Professorin Renate Köcher und Herrn Dr. Wilhelm Haumann gesagt, die sich wieder mit großem Engagementdem Thema geöffnet und in professioneller Weise die Befragung‚face-to-face‘ durch das Institut für Demoskopie durchgeführt haben.Es war wieder eine Freude mit den Kolleginnen und Kollegen gemeinsam die Ausrichtung des Fragenkatalogs zu bedenken und zuentwickeln.Die GKV-Routinedatenanalyse der DAK-Gesundheit-Datensätze,die über das Versorgungsgeschehen, über die regionale Prävalenzen und Versorgungswirklichkeiten von Menschen mit Demenz inder Gruppe der DAK-Gesundheit-Versicherten Auskunft geben soll,ermöglicht interessante und so bisher kaum vorliegende Einblickein die Versorgungswirklichkeit unter Gesichtspunkten der Gesundheitskosten. Hier seien Dr. Helmut Hildebrandt, Timo Schulte undLaura Lange herzlich gedankt für die wieder sehr vertrauensvolleZusammenarbeit.Die OptiMedis AG steht für hohe Professionalität in dem Serviceder Datenauswertung. Dank gilt auch den Kolleginnen und Kollegen von der DAK-Gesundheit, die in äußerst verlässlicher und zugewandter Weise sowie mit großem Aufwand und Hingabe in derSache die Daten für die Analyse zusammengestellt haben. Mit derOptiMedis-Analyse liegt nun ein hoch relevantes Daten-Set vor, dasdazu einlädt, über Optimierungen in der Versorgung von Menschenmit Demenz nachzudenken.Die qualitative Studie, die Einblick in die Pflegehaushalte von DAKGesundheit Versicherten bietet, wurde so ausgerichtet – wie imÜbrigen auch die Routinedatenauswertung –, dass Versicherteaus unterschiedlichen Regionen Deutschlands einbezogen werden konnten. Dabei haben wir uns an den Regionaltypen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung orientiert. Sowohlgroßstädtische als auch ländlich geprägte Regionen sind vertreten,prosperierende und eher strukturschwache Orte sind dabei. Diequalitativen Interviews bieten Einblick in sonst kaum zugänglicheLebenswelten. Sie ermöglichen den Zugang in vielfach vernachlässigte Lebenswirklichkeiten von pflegenden Angehörigen. Auch ichhabe mich an diesen beteiligt und war, ebenso wie die für diesen Arbeitsschritt verantwortlichen KollegInnen von AGP Sozialforschung,Christine Bruker und Florian Wernicke, von der emotionalen Tiefeund den in vielfältiger Weise geschilderten Erfahrungen der Betroffenen sehr beeindruckt. Die Studie offenbart unterschiedliche Settings und zeigt dabei auf, wie relativ irrelevant regionale Infrastruk-XI

XIILeben mit Demenz – Schreckgespenst des Alters?turen sein können, wenn die jeweilige Sorgekultur nicht auch dieHaushalte erreicht.Auch das schlechte Image von Heimen und die subjektiv empfundene Aussichtslosigkeit der Versorgungssituation prägen die vielen Interviews. Immer wieder sprachen die nach der Wirklichkeit des Pflegealltages Befragten von dem Gefängnis, als das sie die Sorge- undPflegeaufgaben sehen. Am ehesten gelingt die Sorge dann, wenndie Verantwortung für die Begleitung von Menschen mit Demenz aufunterschiedliche Schultern verteilt wird.Das von AGP Sozialforschung geprägte Leitbild der geteilten Verantwortung scheint eine Bedingung guten Lebens auch für Menschen mit Demenz zu sein. Das hat auch der Siebte Altenberichtherausgestellt.Ambulant betreute Wohngemeinschaften stehen pars pro toto für eine neue Sorgekultur – wie es die Allensbach Studie deutlich machtauch in der Einschätzung der Bevölkerung. Ihr manifester Versorgungsbeitrag ist noch gering. Sie sind keineswegs überall verfügbar. Wie Hospize aber stehen sie für die Suche nach neuen Wegendes Wohnens und der Sorge auch für Menschen mit Demenz – unddies, wenn es sich bei ihnen um tragfähige Innovationen handelt –in geteilter Verantwortung. Darum wurde, ohne ambulant betreuteWohngemeinschaften als Lösung der Versorgungsherausforderunggenerell zu propagieren, das von der Bundes- und der Landespolitik geförderte Konzept der ambulant betreuten Wohngemeinschaftals Good Practice-Beispiel ausgewählt und steht am Abschluss desDAK Pflegereportes.Die Gestaltung einer neuen Kultur der Hilfe und Unterstützung fürMenschen mit Demenz ist voraussetzungsvoll. Sie ist gekennzeichnet von einem koproduktiven Zusammenwirken vieler Akteure – Anund Zugehörigen, Profis, Freiwilligen, Personen anderer Berufsgruppen und Institutionen. Das ist eine der wesentlichen Essenzendes Good Practice Beispiels. Alle Beteiligten, auch die Pflegekassen, sind gefordert, in einer dienenden und ermöglichenden Weise,die Bedingungen guten Lebens für Menschen mit Demenz zu befördern. Die Pflegeversicherung bietet dafür eine Basis. Im Zentrumsteht, das macht der DAK Pflegereport 2017 deutlich, die kulturelleAnnahme der Herausforderungen, die mit einem Recht auf Demenzals Lebensform verbunden sind.Prof. Dr. Thomas KlieFreiburg/Berlin Oktober 2017

Teil 1: Expertise, Akzeptanz und Anteilnahme:Voraussetzungen für einen gelingenderenAlltag mit Demenz – Ergebnisse desDAK Pflegereports 2017

21.Expertise, Akzeptanz und Anteilnahme:Voraussetzungen für einen gelingenderenAlltag mit Demenz – Ergebnisse desDAK Pflegereports 2017Thomas KlieGibt es ein gutes Leben mit Demenz? – Mit dieser Frage widmetsich der Pflegereport 2017 einem der wichtigsten aktuellen gesellschaftlichen Themen und Herausforderungen in einer Gesellschaftdes langen Lebens – dem der hirnorganischen Veränderungen, zusammengefasst unter dem Dachbegriff Demenz. Zahlreiche Menschen in Deutschland sehen sich direkt oder indirekt mit einer Formvon Demenz konfrontiert. Etwa ein Viertel aller erwachsenen Deutschen hat bereits einen Menschen mit Demenz im Familien- oderFreundeskreis begleitet. Der Umgang mit der Krankheit kennt daherviele Bilder und Geschichten. Um diese adäquat zu untersuchen,wurden im aktuellen Pflegereport bewusst unterschiedliche empirische Zugänge gewählt.Der Alltagmit Demenzaus Sicht derAngehörigenDas Besondere: Die Leitfragen des Pflegereports konzentrieren sichnicht auf die jeweiligen Diagnosen und Ausprägungen der Symptome sowie individuellen Belastungen durch Demenz. Im Fokusstehen die Identifikation und Beschreibung von Bedingungen gelingenden Alltags und Lebens mit Demenz. In diese Betrachtungenwurden neben erkrankten Personen auch die sie begleitenden Anund Zugehörigen einbezogen. Anhand der perspektivischen Vielfaltreflektiert der Pflegereport 2017 ein tiefenschärferes Bild der Wirklichkeit eines Lebens mit Demenz als dies in sonstigen Statistikenund öffentlichen Thematisierungen der Fall ist.RepräsentativeBevölkerungsumfragezum ThemaDemenzDas Institut für Demoskopie Allensbach erfragte innerhalb einerrepräsentativen Bevölkerungsumfrage Einstellungen und Erfahrungen von Bundesbürgerinnen und -bürgern zum Thema Demenz. Umden beschriebenen Zielen zu folgen, wurde bei der Entwicklung desFragebogeninventars besonderer Wert auf die Erhebung von Bedingungen eines guten Lebens, auch mit Demenz, gelegt. Das hintergründig verwandte Konzept Guten Lebens geht dabei auf die Arbeitder US-amerikanischen Philosophin und RechtswissenschaftlerinMartha C. Nußbaum (Nussbaum 1999) zurück. Eine Reproduktionbestehender, sich an Aspekten von Pflegebedürftigkeit, Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit anlehnender Stereotype sollte so entgegengewirkt werden.Demenz als Ein Recht auf Demenz haben (Klie 2017a; 2017b) – Dieser zuLebensform nächst seltsam anmutenden Formulierung wohnt ein ernster Geanerkennen danke inne: Nimmt man das Konzept Martha C. Nussbaums ernst,gilt es, dass gutes Leben dort möglich wird, wo Menschen Nähe,Beteiligung, Sinnhaftigkeit und somit letztlich Würde erfahren kön-

1 Voraussetzungen für einen gelingenderen Alltag mit Demenz3nen. Für Menschen mit Demenz gilt dies unabhängig von derzeitigen Heilungsaussichten oder Behandlungsformen. Als Gesellschaftstehen wir somit vor der Aufgabe, Demenz als Lebensform anzuerkennen, wollen wir uns selbst nicht einer konstruktiven Alter(n)kultur(BMFSFJ 2010) verweigern. Die Chance hierfür liegt im gemeinsamen Lernen – individuell, fachlich und zivilgesellschaftlich.Abbildung 1: Leben mit Demenz: Haltungen und KenntnisseQuelle: Institut für Demoskopie Allensbach, 2017.Optimismus durch Erfahrung – Konfrontiert man die Ergebnisseder Bevölkerungsbefragung mit den vor allem medial präsenten Bildern zum Thema Demenz, die diese als einen nicht hinnehmbarenZustand, sogar als Infragestellung von Identität und Autonomie, aberauch der Würde verstehen, so sind diese durchaus bemerkenswert.Wissen zumethischenUmgang mitErkrankten istvorhanden

4Voraussetzungen für einen gelingenderen Alltag mit Demenz 1Die für einen würdestiftenden Umgang essentiellen Wissensinhalteund Einstellungen sind in der Bevölkerung breit verankert. So istvielen Menschen bekannt, dass sich intakte soziale Kontakte positivauf Krankheitsverläufe auswirken können, dass körperliche Zuwendung auch für Menschen mit Demenz ein Bedürfnis darstellt undnicht zuletzt, dass betreffende Personen zur intensiven Empfindungund differenzierten emotionalen Äußerung fähig sind. Auch die Sicherung individueller Autonomie und Selbstbestimmung sowie einegute fachliche Begleitung werden als wichtige Ressourcen zur Gestaltung eines Lebens mit Demenz benannt.Relationale Gutes Leben teilen – In diesem Zusammenhang ist ein erweiterAutonomie tes Verständnis des Autonomie-Begriffs gefragt: Als soziale Wesenleben wir, auch jenseits von Krankheit und Verletzlichkeit, in der Verwiesenheit auf andere. Wir benötigen Unterstützung in nahezu allenLebensphasen und vertrauen auf das wohlwollende Handeln anderer Menschen. Besonders Menschen mit Demenz benötigen verschiedene Formen anteilnehmender Fürsprache, um ihre Wünscheund Bedürfnisse angemessen selbstbestimmt umsetzen zu können.Die Fachwelt kennt hierfür den Begriff der relationalen (auf Beziehungen beruhenden) Autonomie. Diese kann als eine der grundlegenden Bedingungen guten Lebens kenntlich gemacht werden.GeteilteErfahrungenundEmotionenSo verweisen die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung auf dieWichtigkeit gemeinsam geteilter Erfahrungen und Entscheidungensowie der differenzierten Wahrnehmung von Menschen mit Demenzin ihren kommunikativen Fähigkeiten. Damit dies gelingen kann, bedarf es immer auch einer gemeinsamen Erörterung der jeweiligenLebenssituation. Dies belegen auch die Aussagen der Personen, dieErfahrung in der Begleitung von Menschen mit Demenz besitzen.Von ihnen halten 77 % ein gutes Leben mit der Krankheit für möglich und benennen sogar konkrete Beispiele. Sie berichten von Momenten geteilter Freude, humorvollen und sogar lustigen Szenen,der ausgeprägten Emotionalität Demenzbetroffener und verschiedenen Möglichkeiten, Freude zu empfinden. Erfreulich ist zudem,dass auch jene Menschen ohne Krankheitserfahrung überwiegendzustimmend auf die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeiteines guten Daseins mit Demenz reagieren.BessereUnterstützungfür AngehörigenotwendigUm die beschriebenen Qualitäten im Alltag sichtbar zu machen,bedarf es jedoch der Erfüllung verschiedener Voraussetzungen.Auch dies heben die Befragten deutlich hervor. An- und Zugehörigebedürfen wesentlich besserer Unterstützung durch professionelle,aber auch informelle Akteure. Die Ergebnisse geben zudem Anlass,die Sicherung von bisher bedeutsamen sozialen und familiären Bezügen in den Vordergrund der Begleitung zu stellen.Geteilte Verantwortung teilen – Komplexe Lebenslagen, zu denen zwei Verantwortung felsohne auch der alltägliche Umgang mit Demenz gehört, erfordernkreative und gut organisierte Begegnungsformen. Menschen, diesich in der Pflege und Begleitung Demenzerkrankter engagieren,

1 Voraussetzungen für einen gelingenderen Alltag mit Demenz5wissen um die zahlreichen Belastungsmomente. Die vielfältigenAufgaben, die mit der Begleitung und Versorgung von Menschenmit Demenz einhergehen, können daher nur gemeinsam gelingen.Dass diese Hilfe nötig und gewünscht ist, zeigen nicht nur die zuvor beschriebenen Ergebnisse dieser Studie. Die gesellschaftlicheBedeutung und Tragweite geteilter Verantwortungsstrukturen, insbesondere in Bezug auf die Lebensphase Alter, treten im SiebtenAltenbericht der Bundesregierung, der sich diesem Thema intensivwidmet, deutlich hervor (BMFSFJ 2016). Die gekennzeichnete Relevanz für den gelebten Alltag mit Demenz spiegelt sich auch in denEinstellungen und Erwartungen der Bevölkerung wieder:Die Befragungsergebnisse zeichnen ein Bild wahrgenommenerund gewünschter Aufgabenverteilung bei der Pflege und Begleitungdurch eine Mischung aus professionellen Gesundheitsdienstleistungen und informeller Unterstützung (Welfare-Mix) (Klie/Ross 2005).Neben (notwendigen) professionellen Hilfen, sind es vor allem Anund Zugehörige, Freunde, Bekannte und Freiwillige, die einen gewichtigen Beitrag zur Gestaltung eines guten Lebens mit Demenzleisten können. Das Bild, das die Befragten über ein Leben mit Demenz widergeben, ist geprägt von dem Bemühen, den Betroffenenmit Respekt und Würde zu begegnen. Auch die Versorgungssituation wird von gut der Hälfte der Befragten als akzeptabel angegeben.Die zuvor beschriebenen Aussagen kennzeichnen eine Ambivalenzhinsichtlich der Forderung nach einer besseren finanziellen und professionellen Unterstützung. Auch die Bedeutung osteuropäischerPflegekräfte in der Versorgung von Menschen mit Demenz wird imPflegereport berücksichtigt.Wunsch nachergänzendenArten vonUnterstützungDie Leistungsfähigkeit der An- und Zugehörigen, die sich in den Be- Leistungen derfragungsergebnissen widerspiegelt, ist erstaunlich: Auch wenn ein An- und ZugeDrittel betont, man habe sich an den Grenzen seiner Kraft befun- hörigenden und das Privatleben stark beeinträchtigt wurde, gilt dies für dieMehrheit der Befragten so nicht. Allerdings nimmt die Besorgnis zu,selbst einmal an Demenz zu erkranken.Nicht zuletzt erfüllen auch ehrenamtlich Tätige eine wichtige unterstützende Funktion, gerade in häuslichen Pflege-Settings. Fast30 % der Befragten gaben dies an. Ernüchternd ist hingegen, dasssich gerade einmal 0,2 % der Bevölkerung freiwillig für Menschen,die auf Pflege und Betreuung angewiesen sind, engagieren.Orte guten Lebens – Welcher Ort für ein gutes Leben mit Demenzgeeignet ist, darüber wird viel debattiert. Der Pflegereport 2017 dokumentiert in beeindruckender Weise die Ratlosigkeit vieler Menschen bei der Beantwortung dieser Frage. Die Ergebnisse weisendeutlich darauf hin, dass der eigene Haushalt demenzerkrankterPersonen nicht in jedem Fall die besten Lebens- und Versorgungsbedingungen bietet.

6Voraussetzungen für einen gelingenderen Alltag mit Demenz 1Orte der Sorge Zwar sind Pflegeheime noch immer tendenziell weniger beliebt, alsund Betreuung häusliche oder anderweitige Versorgungsformen. Dennoch sind nur28 % der Befragten der Meinung, dass der eigene Haushalt der beste Ort für Menschen mit Demenz ist. Vergleicht man diese Aussagenetwa mit dem gewünschten Sterbeort zeichnet sich ein anderes Bild:Das eigene Zuhause wird, wie der Pflegereport 2016 zeigte, sehrviel häufiger als geeigneter Sterbeort identifiziert. Es sind auch nichtdie Haushalte von Angehörigen und Kindern, die als favorisierte Orte angesehen werden. Verbreitet ist die Ratlosigkeit: „Wo leben mitDemenz?“Wohngruppenals neuesVersorgungskonzeptEher sind es die Alternativen – neue Wohnformen wie ambulantbetreute Wohngemeinschaften –, die als institutionelle Lösung diehöchste Zustimmung erfahren. Dabei sind sie bis auf wenige Regionen infrastrukturell kaum verfügbar (Klie et al. 2017). Sie stehenaber für andere, neue Wohn- und Versorgungskonzepte, die im Pflegereport 2017 angeführten good-practice-Beispiel noch besondersgewürdigt werden. Ähnlich wie Hospize stehen Pflegewohngruppenmit einem deutlichen Ortsbezug für Zuversicht stiftende Bilder undWünsche hinsichtlich der Wohn- und Versorgungssituation.Gut versorgt. Aber wie? – Im deutschsprachigen Raum haben sichin den vergangenen Jahren eine Vielzahl neuer Wohn- und Versorgungsformen, insbesondere für Menschen mit Demenz etabliert.Eine exakte, detaillierte Übersicht zu erhalten ist aufgrund der oftungenauen (rechtlichen) Definition nur schwer möglich (Jann 2015).Dabei sind es jedoch fast immer spezifische individuelle Bedürfnisse, die für die Wahl einer angemessenen Wohn- und Versorgungslösung ausschlaggebend sind.AmbulantbetreuteWohngemeinschaftenBesonderer Beliebtheit erfreuen sich derzeit alternative Wohn- undBetreuungsformen wie beispielsweise ambulant betreute Wohngemeinschaften. Sie werden in der Bevölkerung offenbar am ehestenals Versorgungsform akzeptiert; mit ihnen werden Hoffnungen verbunden. Sie sind in ihrer Struktur zudem Ausdruck geteilter Verantwortung und selbstbewusster Lebensgestaltung.good-practice- Das im aktuellen Pflegereport vorgestellte good-practice-BeispielBeispiel zeigt, dass die gemeinschaftliche Gründung einer Wohngemeinschaft voraussetzungsvoll ist. Dies betrifft vor allem den Betrieb,die rechtliche Absicherung sowie die stabile Finanzierung einerderartigen Einrichtung. Dennoch leisten B

DAK-Gesundheit Nagelsweg 27-31, D-20097 Hamburg Autor: Prof. Dr. habil. Thomas Klie Evangelische Hochschule Freiburg Bugginger Str. 38, D-79114 Freiburg Unter Mitarbeit von Christine Bruker, Birger Dittmann, Wilhelm Haumann, Helmut Hildebrandt, Laura Lange, Timo Schulte, Florian Wernicke Redaktion: DAK-Ges